19
Es dauerte fast eine ganze Stunde, bis er seine pyrokinetische Hitze gedrosselt hatte. Als er schließlich wieder zum Haus zurückkehrte, war er immer noch wütend auf Claire, aber jetzt konnte er sie wenigstens nicht mehr körperlich verletzen. Sie musste immer noch Schmerzen haben, dachte er, als er die Einfahrt hinaufging.
Sie stand vor dem Haus, mit dem Krieger, den man ihnen aus Boston geschickt hatte, um sie abzuholen.
„Da, sehen Sie?“, sagte Rio, als er Reichen entdeckte. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er wiederkommt.“
Die tiefe Stimme des Stammesvampirs hatte einen rollenden spanischen Akzent, und als er zur Begrüßung grinste und Reichen die Hand hinstreckte, fielen die Narben, die seine ganze linke Gesichtshälfte verunstalteten, praktisch gar nicht mehr auf. „Schön, dich zu sehen, mein Freund.“
„Gleichfalls“, sagte Reichen und ergriff kurz die Hand des Kriegers.
Rio wurde heute Nacht von seiner hübschen rothaarigen Stammesgefährtin Dylan begleitet. Sie kam forsch auf Reichen zu und küsste ihn zwanglos auf die Wange. „Wir haben uns schon ein wenig Sorgen um dich gemacht.“
„Tut mir leid“, murmelte er und warf Claire einen Seitenblick zu. Sie sah ihn kaum an, und er konnte sehen, dass sie ihre versengten Finger schützend an die Brust presste. Reichen fühlte sich ganz elend, dass sein Fluch sie verwundet hatte. Das wollte er ihr sagen, doch dieses Gespräch mussten sie später unter vier Augen führen.
Sie schien sowieso nicht mit ihm reden zu wollen.
Genauso wenig schien sie weiter darüber streiten zu wollen, mit ihm zum Hauptquartier des Ordens zu gehen. Sie folgte Dylan zu dem Fahrzeug und kletterte auf den Rücksitz.
„Alles okay?“, fragte Rio, als die Frauen außer Hörweite waren. „Du siehst gar nicht gut aus, Amigo.“
„Es wird mir besser gehen, sobald sie im Hauptquartier in Sicherheit ist“, sagte er.
Eigentlich würde es ihm besser gehen, sobald er endlich auf die Jagd gehen und den quälenden Durst löschen konnte, den seine Pyro ausgelöst hatte. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war, die ganze nächste Stunde auf der Rückfahrt nach Boston mit Claire auf dem Rücksitz zusammengepfercht zu sitzen. Es war schon schlimm genug, dass er nach Blut gierte, um die letzten glühenden Kohlen abzukühlen, die immer noch in ihm brannten. Aber es wäre die reinste Folter, gegen seinen Drang anzukämpfen, wenn er nur wenige Zentimeter von der Frau entfernt saß, nach der er dürstete wie nach niemandem sonst.
Das schien auch Rio aufzugehen, als sie zusammen auf den Geländewagen zugingen.
„Dylan hat sicher nichts dagegen, wenn du dich auf den Beifahrersitz setzt“, sagte er. „Sie kann hinten bei Claire sitzen, dann können sich die beiden bekannt machen. Dylan ist viel bessere Gesellschaft als ich oder du.“
Reichen hatte keine Einwände. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und lehnte sich zurück, als Rio den Rover die Auffahrt hinunter und dann auf die Straße lenkte, die sie auf die Interstate bringen würde.
Er hatte recht gehabt, die Fahrt stellte seine Geduld und Selbstbeherrschung auf eine harte Probe.
Während Claire und Dylan sich leise hinter ihm unterhielten - darüber, was sie an Neuengland am meisten liebten und wo sie beide aufgewachsen waren und andere unverfängliche Plaudereien - , starrte Reichen aus der dunkel getönten Fensterscheibe und versuchte, nicht an seinen Hunger zu denken.
Eine Schlacht, die er verlor.
Bis sie die Autobahnabfahrt nahmen und die Innenstadtgrenze von Boston erreichten, verlangte sein fiebriger Hunger, gestillt zu werden.
„Ich muss ein Stück zu Fuß gehen“, sagte er zu Rio, als der Krieger an einer roten Ampel hielt. Er wartete keine Erlaubnis ab, öffnete einfach die Tür und sprang hinaus. „Wir treffen uns später im Hauptquartier. Ich weiß, wie ich euch finde.“
Vom Rücksitz fing er Claires besorgten Blick auf.
Er spürte ihre Besorgnis auch in seinem eigenen Blut. Sie dachte, er würde sich auf eigene Faust an Roths Verfolgung machen.
Was er wohl tatsächlich auch getan hätte, wenn sein tobender Durst nicht gewesen wäre. Sobald der Geländewagen in die Dunkelheit davonrollte, schlich Reichen durch die dicht besiedelten Arbeiterviertel.
Er hielt sich vorsichtig in den Schatten der Seitenstraßen, wo es leichter war, seine Anwesenheit und finsteren Absichten zu verbergen. Es war eine stürmische, regnerische Nacht, sodass weniger Leute als sonst auf der Straße unterwegs waren oder rauchend vor den Pubs herumstanden. Nur eine Handvoll der härtesten und heruntergekommensten Gestalten hatte einen Grund, heute Nacht draußen zu sein - und Reichen war einer von ihnen.
Mit kühlem Blick sah er sich um, was die Stadt ihm zu bieten hatte, und wusste, wenn er in diesem Zustand war, angetrieben von den Nachbeben seiner Macht, war er ein Raubtier im übelsten Sinn des Wortes.
Sein Mund war ausgedörrt, seine Fänge gruben sich in seine Zunge. In diesem Zustand war er so tödlich wie der Älteste in Dragos' Versteck. Ein blutdurstiges, wildes Monster.
Als Reichen eine schmale Straße hinunterschlich, fiel mit lautem Knall eine Tür zu. Er hob abrupt den Kopf. Ein Mann mit Basecap und ausgeleierten Trainingshosen stürmte über eine wacklige hölzerne Veranda und schrie einer älteren Frau wüste Beschimpfungen zu, deren von hinten erleuchtete Silhouette in der Tür aufgetaucht war.
„Schaff deinen Arsch sofort wieder rein, Daniel!
Hörst du mich?“, keifte sie so laut, dass man sie noch vier Straßen weiter hörte.
Der junge Mann zeigte ihr den Stinkefinger und lief weiter. „Du kannst mich auch mal, Mal“, brüllte er ihr zu. „Bleib du hei deinem Fusel und lass die Finger von meinem Gras! Du schuldest mir zwanzig Mäuse für den Stoff, den du mir geklaut hast!“
Reichen legte den Kopf schief und beobachtete, wie der Mann eine dunkle Seitenstraße überquerte.
Mit gesenktem Kopf murmelte der Junge tonlos all die Dinge vor sich hin, die er der alten Säuferin noch sagen wollte, die ihn geboren hatte, und bemerkte nicht, dass er in der schmalen Gasse nicht allein war.
Er sah nicht, wie Reichen sich ihm von hinten näherte, spürte ihn wahrscheinlich nur als kalten Luftzug in seinem tätowierten Nacken. Bevor er eine Chance hatte, auch nur verblüfft aufzukeuchen, sprang Reichen ihn an.
Er warf den Mann auf den rissigen Asphalt, riss ihm das Kinn hoch und drückte es zur Seite, um den hämmernden Puls an seinem Hals zu entblößen. Biss tief hinein und saugte seinen Mund voll warmem, nährendem Blut. Reichen trank hungrig, gierig und ignorierte die schwache Gegenwehr seines Blutwirtes. Jeder Schluck schmeckte bitter und konnte gegen die wüstenartige Trockenheit seiner Kehle nur wenig ausrichten. Sein Hunger hielt immer noch an, selbst als der Mann schon keinen Widerstand mehr leistete.
Reichen fraß. Er konnte nicht aufhören. Er war nicht einmal mehr sicher, dass er noch wusste, wie das ging - eine der schrecklichen Folgen seiner Gabe.
Er hätte den Mann wahrscheinlich getötet, doch plötzlich spürte er kalten, harten Stahl, der sich fest gegen seine Schläfe presste.
„Die Kantine ist geschlossen, Arschloch.“
Reichen grunzte, nur eine leise Ahnung von Wiedererkennen flackerte in seinem Verstand auf. Er trank weiter, war fast am Verhungern.
Der Hahn der riesigen Pistole spannte sich warnend mit einem lauten metallischen Klicken.
„Loslassen, verdammt, oder du frisst Blei.“
Jetzt knurrte er, verärgert über die Unterbrechung und immer noch zu fiebrig, um von seinem Blutwirt abzulassen. Blut schoss über seine Zunge und seine Kehle hinunter, doch das Feuer in seinen Eingeweiden brannte immer noch, war nicht zu löschen. Er warf dem anderen Stammesvampir einen wilden Seitenblick zu, um einzuschätzen, wer ihm hier eine geladene und entsicherte Pistole an den Kopf hielt.
„Verdammte Scheiße“, murmelte der riesige Vampir.
Die eiskalte Mündung der Pistole fiel von seiner Schläfe. „Reichen? Das gibt's doch nicht.“
Reichen kannte diesen riesigen Mann mit dem wilden lohfarbenen Haar und den grimmigen grünen Augen. Krieger, sagte ihm sein Instinkt, Freund, obwohl Haltung und Tonfall ihm noch vor einem Augenblick eiskalten Mord angedroht hatten. Es war dieses instinktive Wissen, das Reichen davon abhielt, den Vampir anzugreifen, als der ihm eine schwere Hand auf die Schulter legte und ihn von seiner Beute herunterriss. Er wurde kräftig nach hinten gestoßen, und der andere packte den Menschen, fuhr ihm kräftig mit der Zunge über die Bisswunden und versiegelte sie.
Reichen saß auf dem Asphalt und sah zu, wie der riesige Stammesvampir dem Mann die Handfläche auf die Stirn legte und die Erinnerung an diesen Angriff aus seinem Gedächtnis löschte. „Und jetzt verschwinde.“
Der Mann, immer noch halb betäubt, stand auf und wanderte benommen auf das andere Ende der Gasse zu.
„Tegan“, murmelte Reichen. Endlich war ihm der Name wieder eingefallen.
Der Krieger stapfte zu ihm. „Was machst du hier unten? Das Letzte, was ich hörte, war, dass Lucan Rio nach Newport rausgeschickt hat, um deinen jämmerlichen Arsch ins Hauptquartier zu kutschieren.“
Reichen zuckte die Schultern. „Mir war plötzlich dringend nach Fast Food.“
Tegan lachte nicht. Er behielt Reichen scharf im Auge, beobachtete ihn wie eine entsicherte Granate.
„Du siehst scheiße aus.“
„Es geht mir schon besser“, antwortete Reichen und spürte, wie das frische Blut seine Organe und Zellen erfrischte. Aber es war nicht genug gewesen.
Sein Durst nagte immer noch an ihm, er gierte nach mehr. „Alles bestens.“
Tegan schnaubte. „Du hast das typische Zittern, und deine Augen können keinen Punkt fixieren.“
„Das geht vorüber.“
Dieses Mal stieß Tegan einen wüsten Fluch aus.
„Los, gib mir die Hand. Sieht nicht so aus, als kommst du allein hoch.“
Reichen nahm die angebotene Hilfe an, ergriff Tegans Hand und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Sobald er aufgestanden war, zog Tegan mit einem scharfen Zischen die Luft ein. Hinter seiner Lippe sprangen deutlich sichtbar seine Fänge heraus, und das Grün seiner Augen war plötzlich mit glühenden bernsteinfarbenen Funken durchsetzt.
Reichen erinnerte sich daran, dass der Krieger die Fähigkeit besaß, Gefühle durch Berührung zu lesen.
Er konnte nur raten, welche Sturzflut beunruhigender Dinge er bei dieser kurzen Berührung aufgefangen hatte.
„Was zur Hölle ist mit dir los, Mann?“, fragte er.
„Das ist die Pyro... die Nachwirkungen. Ist nichts Besonderes.“ Noch während er das sagte, fragte sich Reichen, ob das stimmte. Es fiel ihm immer leichter, seine Macht herbeizurufen; sich von ihren Nachwirkungen zu erholen, war eine ganz andere Sache.
Vielleicht hatte Claire recht gehabt, als sie ihn wegen seiner Wut zur Rede gestellt hatte. Wie oft konnte er das noch tun und hoffen, dass er es unbeschadet überstand? Wie oft noch, bis er den Punkt erreicht hatte, von dem es keine Wiederkehr gab und die Feuer den letzten Rest verschlangen von dem, was ihn zum Menschen machte?
Und wenn es nicht die Feuer taten, dachte er mit einem zunehmenden Gefühl der Übelkeit, dann würde der fast unstillbare Durst es tun, der ihn anschließend immer überfiel.
„Scheiße“, stieß Tegan hervor und musterte ihn mit schmalen Augen. Er zog ein Handy aus der Jackentasche und drückte eine Taste. „Ja, ich bin's. Ich bin unten in Jamaica Plain. Reichen ist hier bei mir, ich bringe ihn ins Hauptquartier.“
Die Frauen der Ordenskrieger hießen Claire mit der gleichen Herzlichkeit bei sich willkommen, wie sie es auch aus den Dunklen Häfen gewohnt war. Drei der Stammesgefährtinnen, Savannah, Gabrielle und Elise, hatten ihr ein wunderbares Abendessen aus cremiger Suppe und selbst gebackenem Brot gezaubert, und Dylan hatte sie durch das Labyrinth der Marmorkorridore in ein Privatquartier geführt, das Claire ganz für sich allein haben würde, solange sie im Hauptquartier zu Gast war.
Man hatte ihr gesagt, sie solle sich ganz wie zu Hause fühlen, und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, das scheinbar endlose Hauptquartier einige Minuten lang auf eigene Faust zu erkunden. Es war faszinierend - und ein wenig beunruhigend - zu erkennen, dass eine Organisation wie der Orden nicht nur existierte, sondern existieren musste. Sie kam sich so naiv vor, wenn sie daran dachte, wie Wilhelm Roth und seine Spießgesellen von der Agentur herumstolzierten und sich als Beschützer der Stammes aufspielten, wo sie doch durch und durch korrupt waren und langsam die moralischen Grundlagen aufweichten von allem, was gut und gerecht war. Wilhelm Roth war schon immer ein Schurke gewesen und Claire zu blind, um es zu sehen.
Aber viel mehr schmerzte sie die Tatsache, dass sie fast ihr ganzes Leben lang in Andreas Reichen verliebt gewesen war, und jetzt, da sie auf so wunderbare Art eine zweite Chance mit ihm bekommen hatte, würde es wohl wieder Wilhelm Roth sein, der sie auseinanderriss. Sie konnte nur hoffen, dass das Gute über das Böse, das er und Dragos repräsentierten, triumphieren würde. Sie konnte nur beten, dass, sobald das Schlimmste vorüber war, sie und Andreas beginnen konnten, all die Angst und Wut abzubauen, die jetzt zwischen ihnen standen.
Die Fahrt von Newport nach Boston war ihr statt der einen Stunde wie Jahre vorgekommen. Es war schrecklich gewesen, dass sie und Andreas nicht mehr hatten reden können, bevor Rio und Dylan gekommen waren, um sie ins Hauptquartier zu bringen. Und immer noch trug sie den kalten Angstklumpen mit sich herum, der sich in ihrem Herzen festgesetzt hatte, sobald er am Stadtrand aus dem Wagen gestiegen war.
Sie wusste nicht, wohin er gegangen war, aber Elise hatte sie darüber informiert, dass er jetzt mit Tegan unterwegs war. Vermutlich waren sie auf dem Rückweg zum Hauptquartier. Das tröstete sie ein wenig.
Wenigstens würde sie immer noch Gelegenheit haben, zu versuchen, die Dinge zwischen ihnen zu klären.
Claire bog in einen der gewundenen weißen Korridore ein und folgte dem schwarzen Glyphenmuster, das im Boden eingelegt war. Es war wirklich faszinierend, besonders wenn man so in Gedanken verloren war wie sie. Sie registrierte einen Luftzug, der schwach nach Chlor roch, und im nächsten Augenblick schwang vor ihr im Korridor eine Tür auf.
Ein kleines Mädchen mit nassen blonden Haaren kam herausgelaufen und wäre fast mit ihr zusammengestoßen. Ihr winziger Körper war in ein weißes Frotteehandtuch gewickelt, die Träger eines pinkfarbenen Badeanzuges schauten daraus hervor.
„Oh!“, rief Claire erschrocken aus. Und es überraschte sie, ein Kind im Hauptquartier zu sehen.
„Tut mir leid. Ich habe dich nicht kommen sehen...“
Ihre Stimme verstummte, denn auf einmal starrte sie in ein großes, glänzendes Augenpaar, das die Farbe von poliertem Silber hatte. Eine wirklich ungewöhnliche Farbe - eigentlich gar keine Farbe, die Augen des Kindes waren fast weiß und so glatt wie Glas... hypnotisch.
„Ich wollte gerade ...“, murmelte Claire, unsicher, was sie als Nächstes sagen sollte, denn in diesem Augenblick begannen sich die Augen des Mädchens zu verändern.
Die Oberfläche ihrer Iriskreise schlug Wellen wie ein Teich, in den man einen Kieselstein geworfen hat.
Ihre Pupillen verengten sich zu winzigen Stecknadelköpfen, zogen Claire tiefer in den eigentümlichen Bann dieser Augen. Und dann sah sie in den spiegelähnlichen Tiefen etwas.
Mit gebannter Faszination sah Claire, wie sich dort ein Bild zu formen begann, rasch Gestalt annahm und sich scharf stellte. Es war eine Frau, die in der Dunkelheit rannte, schreiend, gramerfüllt.
Es war sie selbst.
Claire sah zu, wie die Vision wie ein Filmausschnitt vor ihr abrollte. Aber das war kein Film; es war ihr Leben. Ihre persönlichen Qualen. Sie wusste es instinktiv, als sie sich selbst zusah, wie sie sich ihren Weg durch ein Dickicht von Bäumen und Gestrüpp bahnte, verzweifelt, etwas - oder jemanden - zu erreichen; und doch sagte ihr der Schmerz in ihrer Seele, dass das, was sie suchte, schon für sie verloren war.
Vor ihr war ein blendender Feuerschein, ein tiefer Krater voller Trümmer, brüllender Flammen und Rauch, der eine so intensive Hitze ausstrahlte, dass es sie versengte, als ginge sie in einen Hochofen hinein.
Jemand schrie ihr zu, zurückzubleiben.
Und doch rannte sie weiter darauf zu.
Sie konnte sich nicht abwenden.
Selbst obwohl sie in ihrem Herzen wusste, dass er fort war, konnte sie ihn nicht im Stich lassen.
„Andre“, murmelte sie laut.
Wieder schwang die Tür auf, dieses Mal kam eine Frau heraus. „Oh Gott... Mira“, rief sie, drehte das Kind hastig von Claire weg und drückte sein Gesicht gegen die üppige Schwellung ihres schwangeren Bauches.
Claire kam aus ihrer Benommenheit zu sich, als hätte man sie geohrfeigt.
„Was war das? Was ist passiert?“
Die andere Frau kniete sich jetzt vor dem Kind hin, strich ihm sanft mit der Hand über die Wangen und murmelte beruhigende Worte. Sie warf Claire einen entschuldigenden Blick zu. „Hallo, ich bin Tess. Sie müssen Claire sein. Das ist Mira. Wir kommen gerade vom Schwimmen. Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Claire nickte. „Ihre Augen...“
„Ja“, sagte Tess. „Mira ist eine Seherin.
Normalerweise trägt sie spezielle Kontaktlinsen, um ihre Gabe abzuschirmen, aber sie hat sie rausgenommen, weil sie Angst hatte, sie im Pool zu verlieren.“
„Hallo Claire“, sagte Mira, die sich jetzt Mühe gab, den Blick gesenkt zu halten. „Ich wollte Ihnen keine Angst machen.“
„Ist schon okay.“ Claire lächelte und fuhr mit der Hand über den feuchten Kopf des Mädchens, obwohl sie immer noch erschüttert war von dem, was sie gesehen hatte.
Tess schien ihr Unbehagen zu bemerken, die ultramarinblauen Augen der Stammesgefährtin blickten sanft und mitfühlend. „Mira, warum gehst du nicht schon vor? Ich komme gleich nach, dann lese ich dir eine Geschichte vor, bis Renata und Niko von ihrer Patrouille zurück sind.“
„Okay.“ Das kleine Mädchen drehte sich zu Claire und murmelte ihren Füßen zu: „War nett, Sie kennenzulernen.“
„Gleichfalls, Mira.“
Als sie fort war, lächelte Tess Claire teilnahmsvoll an. „War es schlimm, was sie Ihnen gezeigt hat?“
„Ja“, antwortete sie, zu angeschlagen, um zu erklären, was sie gesehen hatte.
Tess verzog das Gesicht. „Tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass Miras Visionen sich nicht immer erfüllen, aber ihre Gabe ist gnadenlos akkurat. Sie kann nichts dafür. Sie hat keine Kontrolle darüber, darum hat sie jetzt auch diese speziellen Kontaktlinsen bekommen. Jedes Mal, wenn sie ihr Talent benutzt, verliert sie etwas von ihrem Sehvermögen.“
„Wie schrecklich.“ Und nun fühlte Claire sich noch elender, weil sie Mira unwissentlich etwas weggenommen hatte. „Ich hatte keine Ahnung...“
„Sie konnten es nicht wissen, also bitte nehmen Sie es sich nicht zu Herzen“, sagte Tess, sprach sie freundlich von jeder Schuld los. „Der Vampir, der Mira hatte, bevor sie zu uns ins Hauptquartier kam, hat ihr Talent ständig ausgenutzt. Niko und Renata haben sie erst vor ein paar Wochen aus dieser schlimmen Lage befreit. Wir hoffen, dass ihr Sehvermögen sich mit der Zeit wieder voll regenerieren kann.“
„Das hoffe ich auch“, murmelte Claire. Das Kind tat ihr leid, aber in Gedanken war sie schon meilenweit fort.